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Was führt dazu, dass Abschleppseile beim Anfahren reißen, und welche Erkenntnisse lassen sich daraus auf Antriebssysteme übertragen? - Teil 1

Auto, das ein anderes Auto mit einem Abschleppseil abschleppt

Motivation

In diesem Blogbeitrag möchte ich mich genauer mit der Frage auseinandersetzen, die viele Technikbegeisterte beschäftigt:

unter welchen Bedingungen kann ein Abschleppseil zwischen zwei Fahrzeugen beim Anfahren reißen? Ich werde dieses Phänomen genauer unter die Lupe nehmen und erläutern, wie es sich mithilfe einer Berechnungsformel erfassen lässt.

 

Unser Bauchgefühl und womöglich auch unsere Erfahrung geben uns bereits erste Hinweise:

  • leichte Autos lassen sich problemloser abschleppen
  • ein behutsames Anfahren bewirkt, dass das abzuschleppende Fahrzeug sich langsam in Bewegung setzt und das Seil dabei weniger belastet wird

Weniger bekannt ist der Einfluss des Seils als Bindeglied zwischen den Fahrzeugen. Es wirkt nicht nur als federndes, sondern auch als dämpfendes Element, und beeinflusst das Gesamtsystem.

Das System „Abschleppen“ verstehen

Zusammengefasst besteht unser Rechenmodell aus einem System, das das Anfahrprofil (z. B. mit Ruck, Beschleunigung, Geschwindigkeit) als Eingangsgröße, sowie das Seil als federndes und dämpfendes Element (Steifigkeit, Dämpfung) und das zu schleppende Auto (Masse) als Bauteilgrößen umfasst. Diese Komponenten und Parameter bilden die physikalische Basis unseres Modells.

Gesamtsystem Abschleppen, bestehend aus Seil, Auto und Anfahrprofil

Die Bewegungsgleichung aufstellen

In der Welt der Physik und Ingenieurwissenschaften gibt es zahlreiche Methoden zur Berechnung, doch besonders die Ansätze nach Newton bzw. d‘Alembert haben sich als anschaulich und praktikabel erwiesen, wenn es darum geht, Bewegungsgleichungen herzuleiten.

Wie in der unten stehenden Skizze ersichtlich ist, beginnt Fahrzeug 1 ab dem Zeitpunkt t = 0 Sekunden mit konstanter Geschwindigkeit zu fahren und setzt somit das Auto 2 über das Abschleppseil langsam in Bewegung. Diese Art der Anregung eines schwingungsfähigen Systems durch eine Bewegung – und nicht durch eine äußere Kraft – wird als Fußpunkterregung bezeichnet. Dabei spielt das Gewicht des ersten Fahrzeugs keine Rolle.

Im darauf folgenden Schritt werden wichtige Komponenten wie die Seilsteifigkeit, die Seildämpfungskonstante und die Masse 2 eingetragen. Dabei werden auch die positiven Bewegungsrichtungen für den Fußpunkt 1 und die Masse 2 definiert.

Skizze, wie ein Auto im mathematischen Modell abgeschleppt wird und Masse, Steifigkeit und Dämpfungskonstante eingetragen wird

Das Kräfteschaubild wird durch das Eintragen der Kräfte in ihrer Wirkrichtung vervollständigt. Eine Trägheitskraft wirkt stets der Bewegungsrichtung entgegen. Die Seil- bzw. Federkraft am Auto 2 wirkt in Bewegungsrichtung nach rechts und ergibt sich aus dem Produkt von Steifigkeit (c) und der Wegdifferenz (x1 - x2). Die Dämpfungskraft, als geschwindigkeitsabhängige Größe, agiert ähnlich der Federkraft, jedoch mit dem Produkt zur Geschwindigkeitsdifferenz. 

Kräftebilanz für das System Abschleppen, um eine Bewegungsgleichung zu erstellen

Sobald alle Kraftrichtungen und mathematischen Zusammenhänge bekannt sind, werden die wirkenden Kräfte anhand der Vorzeichen zu einer Bewegungsgleichung zusammengefasst. Dabei muss die Summe aller Kräfte Null ergeben.

Die Bewegungsgleichung für das System Abschleppen

die Differenzialgleichung numerisch lösen

Die eingangs gewünschte Berechnungsformel liegt nun in Form einer Differenzialgleichung vor, die folgende Eigenschaften aufweist:

  • 2. Ordnung (2. Ableitung von x2 enthalten)
  • linear (keine Potenzen bei x2 und ihren Ableitungen)
  • homogen (keine weitere Kraftkomponente)

Aufgrund der komplexen Natur werden Differenzialgleichungen meist numerisch mithilfe von Rechenprogrammen gelöst. In diesem Beispiel wird die Lösung numerisch, mit kleinen Zeitschritten und unter Anwendung des Euler-Cauchy-Ansatzes in Excel durchgeführt.

 

Zuerst wird die Bewegungsgleichung nach der höchsten Ableitung x2'' umgestellt und durch einen mathematischen Trick in ein numerisch handhabbares System erster Ordnung überführt (siehe Gleichungen unten). Dabei wird x2'' = Δx2' / Δt gesetzt.  

Differenzialgleichung 2. Ordnung mit einem Trick in ein System 1. Ordnung überführen

Ab jetzt gilt es in Schrittweiten Δt von ti-1 bis ti zu denken. Dasselbe Prinzip gilt auch für x2'(ti-1) bis x2'(ti) und x2(ti-1) bis x2(ti). Im Bild sind die Zusammenhänge veranschaulicht.

Schrittweiten für die Zeit und Geschwindigkeit für das Lösen der Differenzialgleichung nach dem Euler-Cauchy-Ansatz

Mit den aufgeführten Gleichungen können nun für jeden Schritt der zurückgelegte Weg und die Geschwindigkeit mit einer Tabellenkalkulationssoftware (z. B. Excel) auf einfacher Weise über die Kopierfunktion berechnet werden. Zu Kontrollzwecken werden für jeden Zeitschritt die Kraftkomponenten der Bewegungsgleichung aufsummiert. Das Ergebnis sollte ungefähr null sein bzw. gegenüber den Kraftkomponenten sehr klein sein.

Differenzialgleichung numerisch nach dem Euler-Cauchy-Ansatz lösen

Die Lösungen der Differenzialgleichung mit einer Tabellenkalkulationssoftware berechnen

Durch Verwendung der Seil- und Fahrzeugdaten, der Anfangsbedingungen für Auto 1 und 2 sowie einer selbst festgelegten kleinen Schrittweite werden die Werte in der Exceltabelle berechnet.

Excelvorlage für das System Abschleppen zum numerischen Lösen der Differentialgleichung bzw. Bewegungsgleichung

Die Geschwindigkeits- und Wegdiagramme erstellen und auswerten

Die unteren Diagramme zeigen Geschwindigkeitsverläufe (x1' und x2') sowie zurückgelegte Strecken (x1 und x2). Während sich Auto 1 mit konstanter Geschwindigkeit von x1' = 10 km/h (2,7778 m/s) bewegt, erfährt Fahrzeug 2 aus dem Stillstand eine sinusförmige Geschwindigkeitszunahme.

Die errechneten Ergebnisse sind nur bis zu dem Zeitpunkt gültig, an dem das Seil erstmals keine Zugkraft mehr überträgt. Dies geschieht etwa nach 0,39 Sekunden, wenn die Strecke x2 größer als x1 wird.

Geschwindigkeitsdiagramm und Wegdiagramm zum System Abschleppen

Wird das AbschleppSeil reißen?

Im unteren Diagramm sind die Seilkräfte aufgezeichnet, basierend auf dem Produkt aus Seilsteifigkeit c und der Differenz zwischen den Positionen x1 und x2, dargestellt über die Zeit. Unter Verwendung der obigen Daten würde das Seil in dieser Konstellation reißen, da die maximal auftretende Seilkraft etwa 29000 N beträgt – deutlich über der zulässigen Seilkraft von 20000 N. 

Seilkraft zum System Abschleppen

Eine Verringerung der Anfahrgeschwindigkeit auf 1,92 m/s (entspricht 6,9 km/h) würde die Seilkraft an die Grenzbelastung von 20000 N heranführen. Um es praxisnah auszudrücken: bei einer Anfahrgeschwindigkeit in geringer Schrittgeschwindigkeit von 3 km/h bleibt das Seil intakt, was den Erwartungen ziemlich nahekommt.

Das GesamtSystem durch eine parameterstudie besser verstehen

Um ein schnelles Verständnis für schwingungstechnische Systeme und das grundlegende Prinzip von Ursache und Wirkung zu fördern, eignen sich besonders Parameterstudien. Eine zentrale Frage könnte lauten: welchen Einfluss hat eine Verdopplung oder Halbierung des Fahrzeuggewichts auf die maximale Seilkraft? In meiner beruflichen Laufbahn hat es sich als effektiv erwiesen, Veränderungen der Parameter um den Faktor 2 im Zähler oder Nenner vorzunehmen. Die Ergebnisse dieser Variationen sind in der Tabelle dargestellt, wobei die Daten mit 20.000 N als maximale Seilkraft die Ausgangsbasis bildet.

Tabelle zur Parameterstudie zum System Abschleppen

Die Ergebnisse der Parameterstudie analysieren

Nachfolgend sind die Ergebnisse aufgeführt:

  • die Reißkraft erhöht sich um mehr als 40%, wenn entweder die Masse oder die Steifigkeit verdoppelt wird
  • die Variation der Dämpfung hat im Vergleich zu den anderen Parametern lediglich einen geringfügigen Einfluss von etwa 10%. Würde man die Dämpfung in der Bewegungsgleichung nicht berücksichtigen, ergäbe sich eine Erhöhung der Reißkraft um 17%
  • wenn die Fahrgeschwindigkeit von Fahrzeug 1 um den Faktor 2 erhöht wird, verdoppelt sich die Reißkraft.

Die maximale Seilkraft zeigt eine lineare Abhängigkeit von der Eingangsgröße Geschwindigkeit x2', was sie zum dominierenden Einflussfaktor im "Abschleppsystem" macht. Auf den nächsten Plätzen mit gleicher Einflussnahme folgen die Masse und die Seilsteifigkeit. Im Vergleich dazu, hat die Dämpfung einen vergleichsweise geringeren Einfluss auf das System.

Ein Resümee ziehen

Schwingungstechnische Zusammenhänge lassen sich, insbesondere wenn Massen und Steifigkeiten, wie im vorliegenden Beispiel, voneinander isoliert sind, mit dem hier im Blog beschriebenen Verfahren analysieren. Die physikalischen Prinzipien von Trägheit, Steifigkeit und Dämpfung sowie die mathematischen Werkzeuge zur Lösung von Differenzialgleichungen mögen anfangs eine Hürde darstellen, werden jedoch mit mehr Übung deutlich zugänglicher. Der Vorteil besteht darin, dass diese Methoden auf verschiedene technische Anwendungsfälle übertragbar sind.

Durch den Einsatz eines Tabellenkalkulationsprogramms wie Excel, das auf nahezu jedem PC verfügbar ist, können die Ergebnisse effizient berechnet und dargestellt werden. Wenn die Berechnungen darüber hinaus in Vorlagen gespeichert werden, lassen sich für ähnlich komplexe Systeme schnell Ergebnisse erzielen und Parameterstudien durchführen.

Ausblick zu teil 2

Im zweiten Teil wird das schwingungstechnische Modell aus Teil 1 auf Antriebssysteme übertragen und um eine Analyse im Frequenzbereich erweitert. Dabei wird erneut auf Excel als unterstützendes Rechenprogramm zurückgegriffen. Zum Abschluss wird das System im geschlossenen Regelkreis unter Berücksichtigung unterschiedlicher Reglertypen betrachtet, und die Ergebnisse werden anschließend diskutiert.

Der genaue Zeitpunkt für den zweiten Teil steht noch nicht fest.

Wenn Sie mehr Wissen möchten

Wenn Sie neugierig geworden sind und gerne weitere Beiträge aus den Bereichen Maschinenbau und Mechatronik lesen möchten, besuchen Sie bitte regelmäßig meinen Blog-Bereich. Für eine vertiefende Wissensgrundlage lade ich Sie ein, an meiner Schulung für mechanische Konstrukteure (Techniker und Ingenieure) teilzunehmen.

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